Ein Mann schleicht durch ein australisches Museum. Eine Taschenlampe beleuchtet seinen Weg. In diesem unheimlich ruhigen Raum ist niemand außer ihm. Plötzlich bleibt der Mann jedoch stehen. Auf einem der Gemälde ist ihm etwas ins Auge gefallen. Er wird bald herausfinden, was genau er da sieht und er wird damit die Kunstwelt völlig verblüffen.

Der Raum, den der Mann erkundet hat, befindet sich in der National Gallery of Victoria (NGV) in Melbourne, Australien. Das Bild, das er untersuchte, ist eines der berühmtesten Kunstwerke Australiens. Es ist seit 1906 im NGV und wurde dem Museum damals von einer Wohltätigkeitsorganisation überlassen.

Michael Varcoe-Cocks

Der Mann, der herumschlich, war kein Dieb. Es handelt sich vielmehr um Michael Varcoe-Cocks, der im Museum als Leiter der Abteilung für Konservierungen und Restaurierungen von Gemälden und Kunstwerken tätig ist.

Er ist Experte für Gemälde der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und kann daher viel über die ausgestellten Werke erzählen. Aber selbst mit seinem umfassenden Kunstwissen hätte Varcoe-Cocks nicht vorhersagen können, was er finden würde.

The Pioneer

Das Bild, das Varcoe-Cocks Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte war The Pioneer des australischen Künstlers Frederick McCubbin. Das 1904 entstandene Werk gilt als eines der großen australischen Gemälde.

Das NGV geht sogar so weit, The Pioneer als „Meisterwerk“ zu bezeichnen. Varcoe-Cocks ist mit The Pioneer ziemlich vertraut und hat es im Laufe seiner Jahre im Museum oft betrachtet.

Die Entdeckung

Eines Tages fing seine Taschenlampe in der dunklen Galerie jedoch ein Detail ein, das er noch nie zuvor bemerkt hatte. Nachdem der Experte seinen Schock überwunden hatte, begann er zu verstehen, was er sah. Es stellte sich heraus, dass McCubbin in mehr als einer Hinsicht schlau gewesen war.

Nichts in McCubbins Lebensgeschichte deutet darauf hin, dass er gut darin war, Geheimnisse zu verbergen. Tatsächlich deutete zunächst nichts darauf hin, dass er überhaupt ein großartiger Künstler werden würde.

Frederick McCubbin

Als junger Mann in Melbourne hatte er eine Reihe ganz normaler Jobs: an der Seite seines Vaters, als Bäcker und als Rechtsanwaltsfachangestellter. Eine Zeit lang strich er sogar Kutschen.

Aber die Kunst war seine bleibende Leidenschaft, und so fand er irgendwie die Zeit, an der School of Design der NGV zu studieren. McCubbin war bereits 25 Jahre alt, als er seinen ersten Verkauf tätigte.

Eine späte Karriere

Danach folgten mehrere Preise und Mitte der 1880er Jahre begann er mit dem Werk, das ihm einen Namen machte: Darstellungen des australischen Busches. All dies führte dazu, dass sich bei McCubbin der Kreis schloss. Gegen Ende des Jahrzehnts leitete er die Schule, in der er das Malen gelernt hatte.

Dann, im Laufe des Jahrhunderts, spürte McCubbin wie ihn der Busch in seinen Bann zog. Der Maler siedelte mit seiner Familie nach Mount Macedon in der Nähe von Melbourne und entdeckte dort die verschiedenen Farben, die die Wildnis der Macedon Ranges zu bieten hatte.

Europäische Künstler strömen nach Australien

Letztendlich führte dies alles zu The Pioneer. Dabei war McCubbin selbst ein kleiner Pionier. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte Australien einen Zustrom europäischer Künstler erlebt, die ihr Wissen über den „Pleinair“-Malstil geteilt hatten.

Sie wiederum lösten eine australische Version des Impressionismus aus, die den australischen Busch als Inspiration nutzte – und McCubbin war einer der Befürworter dieses Trends.

Der australische Busch

Die australischen Impressionisten konzentrierten sich auf Frabtöne, die in Australien heimisch zu sein schienen. Sie malten den kargen, wasserlosen Boden, die Eukalyptuswälder und den Sand.

Als Australien Anfang des 20. Jahrhunderts von der britischen Herrschaft zu einem eigenen Commonwealth wurde, hielten viele dieser Künstler ein Leben fest, das im Wandel der Zeiten verschwand.

Das Leben am Mount Macedon

Es stellte sich heraus, dass Mount Macedon die perfekte Umgebung für McCubbin war, um seine großartige Arbeit zu leisten. Inspiriert vom Busch schuf er 1904 The Pioneer. Und obwohl es nicht McCubbins einziges Gemälde der australischen Landschaft ist, ist es wohl eines seiner besten.

The Pioneer zeigt das Leben einer Siedlerfamilie. Auf seinen drei Tafeln stellt es die Veränderungen dar, die die Familie im viktorianischen Busch erlebten. Trotz seines Rufs als Impressionist malte McCubbin den Clan mit fast fotografischem Realismus.

Das linke Panel

Im linken Bereich sieht der Betrachter einen Mann und seine Gattin, die neu im Busch angekommen sind. Australische Siedler der 1860er Jahre durften in einigen Kolonien Land erobern, und in diesem Fall scheint es sich um ein Stück Waldes zu handeln. McCubbin malt dies in gedämpften Herbsttönen.

Der Siedler entzündet ein Feuer im Hintergrund des Bildes, in der Nähe des Wagens, der sie dorthin gebracht hat. Seine Frau dagegen steht im Vordergrund, und ehrlich gesagt sieht sie nicht allzu glücklich aus! Vielleicht denkt sie an die harte Arbeit, die ihnen beiden bevorsteht.

Das mittlere Panel

Im mittleren Panel wird dem Betrachter sofort klar, dass einige Zeit vergangen ist. Es gibt ein drittes Mitglied der Familie. Die Frau hält nun ein Kind im Arm, welches sich an ihre Schulter schmiegt.

Der Mann sitzt auf einem Baumstamm, den er – neben vielen anderen – gefällt zu haben scheint. Durch die entstandene Lichtung kann der Betrachter im fernen Hintergrund das Haus der Familie sehen.

Das rechte Panel

Im rechten Panel sehen wir, dass nochmals einige Jahre vergangen sind. Jetzt, durch die viel größere Lichtung zwischen den Bäumen, gibt es eine Stadt. Im Vordergrund kniet ein erwachsener Mann an einem Grab.

Vielleicht ist er das Kleinkind aus dem mittleren Panel, jetzt ein kräftiger junger Bursche. Wir wissen nicht, wessen Grab es ist, aber weder der Siedler noch seine Frau sind auf dem dritten Panel hier abgebildet.

Der Rat eines Freundes

Wenn man The Pioneer als Ganzes betrachtet, erkennt man warum es als Meisterwerk bezeichnet wird. Nicht jeder mochte es zu der Zeit, als es gemalt worden war. Tatsächlich blieb es eine ganze Weile unverkauft.

Erst der Ratschlag eines Freundes von McCubbin führte schließlich doch noch zum Verkauf. Der hatte gesagt: “Lass die Stadt im letzten Panel wie Melbourne aussehen.” Nachdem McCubbin das getan hatte, fand sich auch ein Käufer.

Ein Zeitzeuge

Was das Gemälde selbst betrifft, sollten wir noch wissen, dass es nur wenige Jahre nachdem Australien ein Commonwealth wurde, gemalt worden war. Es konnte damit als ein Zeichen des Stolzes auf das Erbe der Pioniere angesehen werden.

Pioniere, die an den Küsten der Nation angekommen waren. Sie hatten gegen die Wildnis gekämpft und blühenden Städte erschaffen und gebaut, die schon damals an Australiens Küste sichtbar waren.

Ein hartes Leben

Darüber hinaus ist es aber auch möglich, in The Pioneer eine ganz andere Geschichte zu sehen. Die Siedlerin im ersten Panel zeigt sich nicht glücklich, ja sogar besorgt über ihre Zukunfts-Aussichten.

Vielleicht zeigt das die weniger reizvolle Seite des Pionierlebens. Grundsätzlich war das ein sehr hartes und gefährliches Leben. Und das letzte Panel? Vielleicht deutet es darauf hin, dass der Sohn des Siedlers bald sein Elternhaus in der Stadt verlassen wird.

Ein Meisterwerk

Was auch immer McCubbins wahre Absicht ist, The Pioneer hängt im NGV, wo es von den Besuchern sehr geschätzt wird. Im Souvenirshop des Museums zählen Postkarten des Gemäldes zu den meist verkauften Andenken.

Als Varcoe-Cocks durch den verlassenen Galerieraum ging und sich vergewisserte, dass alles in Ordnung war, entdeckte er etwas, das dieses Kunstwerk noch weiter aufwertete. Hinter all der Farbe verbirgt sich eine seltsame Figur – und es sieht so aus, als hätte McCubbin sie absichtlich versteckt.

Ein Fund während des Lockdowns

Es war Herbst 2020, und das Museum war für die Öffentlichkeit geschlossen, als Varcoe-Cocks in der Dunkelheit herumwanderte. Im Gespräch mit der australischen Fernsehsendung Sunrise erklärte er später:

„Ich habe während des Lockdowns die Runde gemacht und mit einer Taschenlampe alle Gemälde überprüft. Dabei kam ich auch am sehr berühmten The Pioneer vorbei.“ Und was als nächstes geschah, setzte eine Reihe von Ereignissen in Gang, die die australische Kunstwelt erschüttern sollten.

Röntgenaufnahmen

Der Lichtstrahl der Taschenlampe des Experten blieb an etwas hängen, das ihm ins Auge stach. Er beschrieb dies gegenüber Sunrise als „eine Form in der Textur, die sich nicht auf diese Komposition bezog“. Es hat sofort seine Neugier geweckt. Was sah er da gerade an?

Es stellte sich heraus, dass Varcoe-Cocks Zugang zu Röntgenaufnahmen des Gemäldes aus dem Jahr 2013 hatte. Und als er sich diese Scans genauer ansah, konnte er feststellen, dass es in The Pioneer etwas gab, das er zuvor nicht bemerkt hatte. Aber auch zu diesem Zeitpunkt konnte er das Rätsel noch nicht vollständig lösen.

Das Motiv

Der jetzt sichtbare Umriss nagte an Varcoe-Cocks. Er hatte es schon einmal irgendwo entdeckt, aber wo? Dann erinnerte er sich. In einem Sammelalbum, das McCubbin aufbewahrt hatte, befand sich ein Foto.

Es war ein kleines schwarz-weiß Foto. Ein Foto eines Gemäldes. Diese Arbeit zeigte einen Buschmann neben einem Kind, und der Kunstexperte hätte nun schwören können, dass er eben dieses Bild verborgen in The Pioneer gesehen hatte.

Das alte Foto

Varcoe-Cocks sagte gegenüber Sunrise: “Ich konnte diese große Gestalt eines Buschmanns sehen, der ein kleines Kind hält, eine schlaffe Gestalt, die gerade im Busch gefunden wurde.”

Dann stellte der Leiter der Restaurierungsabteilung fest, dass sich unter The Pioneer ein weiteres Meisterwerk von McCubbin befand – das zuvor ein Jahrhundert lang unter einem Farbmantel verschollen war.

Digitale Analysen

Der nächste Schritt war also für Varcoe-Cocks, seine Vermutung zu bestätigen. Er sagte der Melbourner Zeitung Herald Sun: „Ich habe das digital darüber gelegt. Es war eine perfekte Übereinstimmung.“

Der Experte fügte hinzu: “Es ist in der Kunstwelt immer eine bemerkenswerte und wundervolle Sache, neue Gemälde hinter oder unter bestehenden Gemälden zu finden, die schon jahrelang von tausenden von Menschen betrachtet wurden.”

Auf ewig verborgen

Aber die Entdeckung ist bittersüß. Dieses versteckte Gemälde kann nicht wirklich aus The Pioneer entnommen werden, da McCubbin sein Meisterwerk direkt darüber gemalt hat. Einer der Vorteile von Ölfarben besteht darin, dass sie geschichtet werden können, um Details zu ändern oder zu verbergen.

Und während das für Künstler eine gute Sache ist, ist es eine Enttäuschung für alle, die McCubbins verlorenes Werk in seiner Gesamtheit sehen möchten. Es ist unter The Pioneer gefangen.

Eine gängige Praxis

McCubbin war übrigens bei weitem nicht der einzige, der neue Gemälde über alte kreierte. Pablo Picasso tat genau dasselbe, als er feststellte, dass er nicht das Geld hatte, um ständig frische Leinwände zu kaufen.

Und es sieht so aus, als würden wir noch immer die Geheimnisse des Meisters entdecken. Im Jahr 2020 wurde bekannt, dass Picassos beliebtes kubistisches Stillleben von 1922 ein früheres Standbild im neoklassizistischen Stil überdeckte.

Es zählt die Absicht

Für McCubbin hingegen war das Auftragen von Farbe nur ein Teil seines Prozesses. Er schuf ein Stück mit vielen Details und tupfte dann mehr Farbe darauf oder rieb es ab, bis er das Gefühl hatte, dass die Arbeit abgeschlossen war.

Das bedeutet, dass McCubbins Oeuvre viele der sogenannten Pentimenti oder Reste früherer Gemälde aufweist. Da diese aber vom Künstler nie als abgeschlossene Arbeiten gewertet wurden, sind sie auch für die Nachwelt wenig interessant.

Das Wissen ist eine Bereicherung

Aber Varcoe-Cocks wusste, wie viel Glück er gehabt hatte, seine Entdeckung zu machen. Er sagte der Herald Sun: „Wenn ich nicht allein im Dunkeln mit einer Taschenlampe durchgegangen wäre, hätte ich es nie entdeckt.”

“Ich hätte sicherlich keine Zeit gehabt, mich darauf zu konzentrieren, die Verbindung herzustellen und das Röntgenbild noch einmal heraus zu suchen, oder dieses kleine Foto in einem Sammelalbum wiederzuentdecken, das wir auf Lager hatten.“

Unkonventionelle Methoden

Das Anleuchten mit einer Taschenlampte ist natürlich nicht die normale Methode, um Pentimenti zu finden. Experten entdecken sie in der Regel durch High-Tech-Methoden wie die Infrarot-Reflektographie. Dadurch kann eine größere Lichtmenge durch jede Oberflächenschicht hindurchtreten und das darunter liegende beleuchten.

Die Technik erwies sich auch als sehr nützlich, als sich der NGV-Kunstwissenschaftler Raye Collins 2007 ein anderes Gemälde ansah. Und wieder war es ein weiteres Werk von McCubbin. Dieser hieß The Letter und wurde in der Stadt Ballarat ausgestellt.

Es war nicht der erste Fall

Der Ausschnitt zeigt eine Dame, die an einem Fluss entlang geht, während sie auf einen Zettel starrt, den sie in ihren Händen hält – vielleicht etwas von einem Liebhaber. Und Collins hatte die Kunst geröntgt, in der Hoffnung, darunter einige von McCubbins früheren Arbeiten zu entdecken. Sie war auch erfolgreich, als sie ein weiteres Standbild unter der Farbe entdeckte.

Das versteckte Abbild soll etwas sein, das McCubbin als Student gemalt hat. Collins sagte der australischen Zeitung The Courier-Mail: „Wir waren sehr überrascht, ein Gemälde darunter zu finden. Es ist sehr wichtig; es hilft uns, diese ganze Geschichte über das Gemälde aufzubauen, und das Gemälde erzählt uns auch viel über die National Gallery School.“