Endlich sass Taylor in seinem Kindersitz. Nach all dem Quengeln im Supermarkt, nachdem Lavana schon kurz davor war einen Nervenzusammenbruch zu bekommen, sass das kleine Goldstück jetzt friedlich im Auto und war noch beim Anschnallen eingeschlafen.

Lavana atmete tief durch. Langsam beruhigte sie sich wieder. Wie peinlich war das gewesen? Ein voller Einkaufswagen, Taylor, der seit 45 Minuten erst im Wagen, dann auf ihrem Arm quengelte und dann ging an der Kasse ihre Kreditkarte nicht.

Eine stolze Texanerin

Lavana war 22 Jahre alt und lebte in Port Isabel, Texas. Sie war stolz darauf in Texas geboren zu sein, vor drei Jahren einen Texander geheiratet zu haben und konnte sich keinen besseren Ort zum Leben vorstellen.

Mit dem kleinen Taylor war ihr Traum endgültig in Erfüllung gegangen. Jedenfalls dachten Lavana und Charles (24 Jahre) das bei seiner Geburt. Daran, einmal vor Scham im Erdboden versinken zu wollen, weil sie die Wocheneinkäufe nicht bezahlen konnte, hatte sie damals nämlich nicht gedacht.

Selbstbestimmt

Damals, vor drei Jahren, schien ein traumhaftes Leben vor dem jungen Paar zu liegen. Charles war als Halbwaise aufgewachsen. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt gestorben. Sein Vater war ein erfolgreicher Unternehmer. Er hatte Charles eine gute Ausbildung ermöglicht und ihn dabei unterstützt seinen Traumjob zu finden.

Charles war das, was man allgemein als einen Autonarr bezeichnen würde. Obwohl er im Unternehmen seines Vaters einen gut bezahlten, bequemen Bürojob hätte haben können, wurde Charles Automechaniker. Scherzhaft sagte er oft, er habe Öl an den Fingern und Benzin im Blut.

Traumjob

Charles konnte sowohl die Elektronik moderner Fahrzeuge reparieren als auch die mechanischen Probleme von Oldtimern lösen. Das machte ihn zu einem gefragten Mann. Er arbeitete in einer kleinen Werkstatt im Nachbardorf.

Immer wieder erzählte er Lavana abends von Späßen, die sich die Kollegen untereinander erlaubten. Er war dankbar für einen immer freundlichen Chef und Kollegen, die am Wochenende oft zum Grillen vorbeikamen.

Eigenständigkeit

Gerade weil sein Vater als Unternehmer viel Geld verdiente, war es Charles wichtig auf eigenen Beinen zu stehen, eigenes Geld zu verdienen und seine kleine Familie ohne fremde Hilfe zu finanzieren.

Lavana verstand das und freute sich anfangs ebenfalls Geld zum gemeinsamen Leben beisteuern zu können. Sie hatte nicht so viel Glück mit ihrer Schichtleiterin im Café, doch sie erhielt gutes Trinkgeld, da sie immer gute Stimmung verbreitete.

Zerbrechliches Glück

Dann, vor etwa einem Jahr, kam dieser Tag, der alles verändern sollte. Charles Vater, selbst erst 45 Jahre alt, erlitt einen Herzinfarkt und starb. Für Charles schien die Welt stehen zu bleiben.

Es war, als würde alles Glück, alles Lachen, jegliche Freude und jeglicher Lebensmut von einem Moment auf den anderen aus Charles herausgepresst. Er wurde still, zog sich zurück, spielte nicht einmal mehr mit Taylor.

Ein Vermögen verweht

Zuerst sah es so aus, als würden Charles und Lavana durch den Tod von Charles Vater zu reichen Erben. Lavana musste zugeben, dass ihr diese Aussicht durchaus gefiel. Da Charles aber auch nach Tagen nicht aus seiner Traurigkeit herausfand, begann sie sich, für den Gedanken ans Erbe zu schämen.

Doch dann kam alles ganz anders. Der Anwalt seines Vaters riet Charles dazu, das Erbe auszuschlagen. Durch den unerwarteten Tod, sei das Unternehmen nicht in der Lage die offenen Aufträge zu erfüllen. Es drohten hohe Schadensersatzforderungen von Kunden.

Eine böse Überraschung

Am Ende reichte selbst die hohe Lebensversicherung seines Vaters nicht aus, um die Vertragsstrafen des Unternehmens zu bezahlen. Selbst sein Elternhaus und die Autos seines Vaters wurden versteigert. Die Kosten für die Beerdigung mussten Charles und Lavana von ihren Ersparnissen begleichen.

Besonders setzte Charles zu, dass auch der alte Mustang seines Vaters gepfändet und versteigert wurde. In diesem Auto hatte sein Vater ihn jahrelang von der Schule abgeholt,  ihm später sogar das Fahren beigebracht. Immer wieder hatte er gesagt, dass er ihm den Wagen eines Tages schenken würde.

Endlose Trauer

Lavana konnte Charles gut verstehen. Ihr Schiegervater war ein ganz besonderer Mensch gewesen. Oft war er abends gekommen, um auf seinen Enkel aufzupassen, damit sie und Charles einen Abend zum Tanzen gehen oder Freunde besuchen konnten.

Jetzt fühlte sie sich machtlos. Charles trauerte, und er ließ Lavana nicht an sich heran. Der fröhliche Charles schien gegangen. Seit Wochen bekam sie nur kurze, einsilbige Antworten. Sein Lachen fehlte ihr so sehr. Wie lange sollte das noch so weitergehen?

Risse in der heilen Welt

Die Beerdigungskosten hatten ein tiefes Loch ins Budget der jungen Familie gerissen. Lavana hatte die Mitgliedschaft im Fitness-Studio und einige Streaming-Dienste gekündigt. Dass Charles keine Lust mehr hatte auszugehen, half zumindest soweit, dass es günstiger war zuhause zu essen.

Das schlimme waren aber nicht die Geldsorgen. Die störten. Ja, keine Frage. Die wahre Belastung aber war Charles Verhalten. Freunde meinten, er sei vermutlich in eine Depression gerutscht. Sie empfahlen eine Gesprächstherapie bei einem angesehenen Psychologen in der nächst größeren Stadt.

Eine Entdeckung

Aufgrund der stets knappen Kasse ging Lavona die monatlichen Kontoauszüge nun immer akribisch durch, stets auf der Suche nach Posten, die man streichen, kündigen und einsparen konnte.

Eine Position tauchte nun schon das dritte Monat in Folge auf – ein mysteriöser Abbuchungsauftrag über 95 US-Dollar, genannt „STOR336“. 95 US-Dollar war vor kurzem noch eine Lappalie gewesen, heute war es ein wöchentlicher Einkauf. Heute war es der Grund mit schamesrotem Kopf einen vollen Einkaufswagen im Supermarkt zurücklassen zu müssen.

Nachforschungen

Eine Suche im Internet nach STOR336 brachte keine hilfreichen Ergebnisse. Also rief Lavana die Bank an, um den mysteriösen Abbuchungsauftrag zu verfolgen. Nach einer Ewigkeit in der Warteschleife hatte sie eine Antwort.

Die 95 Dollar gingen an eine Firma namens „Store-IT“. Ein großes Lagerhaus im Nachbarort. Man konnte dort unterschiedlich große Räume mieten um Sachen einzulagern, wenn man zu Hause keinen Platz hatte.

Ein Rätsel

Lavana wunderte sich. Sie hatten einen großen Keller und eine Garage, in der neben den zwei Autos auch noch all die Gartengeräte, die Surfbretter und die Campingausrüstung Platz fanden. Sie brauchten kein zusätzliches Lager.

Lavana blätterte die Kontoauszüge zurück. Die erste Abbuchung begann sechs Wochen nach dem Tod ihres Schwiegervaters. Was auch immer es war, es hatte etwas mit Charles Trauer und Schweigsamkeit zu tun. Wie sollte sie diesem Rätsel auf den Grund gehen? Sollte sie Charles einfach fragen?

Detektiv spielen

Lavana suchte zwei Tage lang nach dem passenden Moment um Charles anzusprechen. Doch der ergab sich einfach nicht. Es schien fast, als habe sich Charles noch mehr zurückgezogen.

Lavana entschied sich, das Rätsel selbst zu knacken. Kurzerhand packte sie Taylor ins Auto und fuhr zu dem Lager. Den Schlüssel hatte sie nicht, aber den Kontoauszug mit der Abbuchung der Lagermiete. Sie sagte dem freundlichen Mann an der Rezeption, Charles habe den Schlüssel verloren und sie geschickt um einen neuen zu beantragen. Würde sie mit dieser Lüge durchkommen?

Es funktionierte

Der Mann schien Lavanas Nervosität nicht zu bemerken. Es half vermutlich, dass Taylor auf ihrem Arm lautstark quengelte. Der Mann erklärte, dass man aus Sicherheitsgründen die Zweitschlüssel nicht auf dem Gelände aufbewahre.

Bis zum nächsten Vormittag könne er aber einen Zweitschlüssel aus der Zentrale anfordern. Ab 10:00 Uhr könne sie ihn dann abholen. Als Frau des Mieters reiche es völlig aus, ihren Führerschein vorzuzeigen.

Eine schlaflose Nacht

Lavana schlief in dieser Nacht kaum. Charles hatte sich wie immer zu später Stunde eingeschlichen, leise, ohne ein Wort zu sagen, und schlief fest neben ihr. Sie lag wach und fragte sich, was in diesem Lagerraum sein könnte.

Welches Geheimnis verbarg ihr Mann vor ihr? Die Digitalanzeige des Weckers am Nachttisch zeigte 4:55 Uhr. Lavana seufzte. Die ersten Sonnenstrahlen wagten sich heraus und die Vögel begannen zu zwitschern. Taylor fing an leise zu weinen. Es waren harte Zeiten.

Alles wie immer

In Lavana tobte ein Sturm. Angst, Wut und Ärger wechselten sich ab. Am liebsten hätte sie Charles geschüttelt, ihn angeschrien, Antworten verlangt und mit den Fäusten auf seine Brust getrommelt.

Statt dessen bereitete sie leise weinend das Frühstück zu. Alles wie immer. Mit Tränen in den Augen packte sie Charles ein Lunchpaket mit Resten des gestrigen Hackbratens. Alles wie immer.

Detektiv spielen, die zweite Runde

Nachdem Charles zur Arbeit gefahren war, wartete Lavana nervös, dass es 10:00 Uhr wurde. Um 9:50 sass Taylor angeschnallt im Kindersitz und Lavana war auf dem Weg zum Lager, den Ersatzschlüssel holen.

Der freundliche Mann an der Rezeption erkannte sie wieder und gab ihr ohne weitere Fragen den Ersatzschlüssel zu Lagerraum 336. Das war fast zu einfach, dachte sie, während sie auf der Suche nach der richtigen Nummer durch die Reihen fuhr. 300… 320… schließlich 336.

Der Lagerraum

Lavana nahm Taylor auf den Arm und ging zielstrebig auf den Lagerraum zu. Sie ging in Hocke, schob den Schlüssel in das Schloss und rastete ihn ein. Sie zögerte ein paar Sekunden. Was würde sie gleich sehen?

Dieser Moment markierte den Punkt, an dem sie eine Grenze in der Beziehung zu Charles überschreiten würde. Wollte sie das? Sollte sie Charles nicht doch besser einfach fragen? Ihm eine Chance geben zu erklären, was hier vor sich ging?

Das Tor zu Antworten öffnen

Lavana entschied für sich, dass sie lange genug gewartet hatte. Jetzt und hier waren der Moment und der Ort um Antworten zu erhalten. Wer vorankommen wollte, bat lieber hinterher um Verzeihung als vorher um Erlaubnis.

Sie öffnete das Tor. Der muffige Geruch von alten Polstern schlug ihr entgegen, als ein Lichtstrahl durch das Tor in den Raum fiel. In der Mitte stand ein großes Objekt. Offenbar ein Auto, mit einer grauen Plane bedeckt.

Das Geheimnis lüften

Vorsichtig, mit nur einer Hand, da sie ja Taylor im Arm hielt, zog Lavana die Plane vom Auto. Für einen Moment blieb ihr das Herz stehen. Das war der alte Mustang von Charles Vater.

Lavana verstand die Welt nicht mehr. Der Wagen war gepfändet worden, versteigert. Charles war nicht einmal auf der Auktion gewesen, da zu dem Zeitpunkt bereits klar war, dass sie die Kosten der Beerdigung tragen mussten. Durch die schmutzige Scheibe konnte sie auf dem Beifarersitz etwas erkennen. War das eine Tupperdose?

Eine Tupperdose in einem gepfändeten Wagen

Lavana zog am Griff der Fahrertür. Sie war nicht verschlossen. Die Tür quietsche leicht beim öffnen und Lavana ließ sich mit Taylor auf den Fahrersitz plumpsen. Immer noch sprachlos vor Verwunderung.

Vor ihr auf dem Lenkrad balancierte eine Schachtel Zigaretten. Neben sich am Beifahrersitz war eine Tupperdose. Sie öffnete die Dose und darin lag eine alte Baseballkappe ihres Schwiegervaters. Unverkennbar, das alte, abgetragene Ding. Seine Lieblingskappe. Sie roch sogar nach seinem Aftershave.

Es ergibt keinen Sinn

Lavana konnte nicht wirklich glauben, dass Charles so etwas vor ihr verborgen hatte. Wie war er an diesen Wagen gekommen? Sie wollte Antworten! Sie fotografierte die Zigarettenschachtel, die vor ihr auf dem Lenkrad balancierte und schickte das Foto an Charles.

Sie schrieb: “Liebling, ich bin nicht böse. Nur verwirrt. Lass uns reden. Jetzt. Hier. Taylor und ich warten auf Dich. Deine Familie wartet auf Dich.” Dann lehnte sie sich im Sitz zurück und bemerkte, dass Taylor an ihre Schuler gekuschelt eingeschlafen war.

Ein sanftes Wecken

Lavana musste ebenfalls eingeschlafen sein. Sie wurde wach, als sie sanft am Arm gestreichelt wurde und die leise, liebevolle Stimme ihres Mannes hörte. Sein liebevoller Tonfall, den sie die letzten Monate so vermisst hatte.

Charles beugte sich in den Wagen und umarmte seine Frau und seinen kleinen Sohn. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er zitterte und bebte. All die Trauer der letzten Monate, all die Wut über die Ungerechtigkeit der Welt, alles bahnte sich endlich einen Weg und ließ diesen Riesen von einem Mann aus ganzem Herzen weinen. Und Lavana weinte mit ihm.

Tränen reinigen die Seele

Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Die Zeit stand still. Es existierten nur sie drei und der alte Mustang. Als die Tränen versiegt waren atmete Charles tief durch und sagte: “Ich glaube, ich muss Dir was erklären.”

Charles Chef und seine Kollegen in der Autowerkstatt waren ebenso verzweifelt gewesen wie Lavana, als von einem Tag auf den anderen alle Lebensfreude aus Charles gewichen war. Dass er erst seinen Vater, dann sein Erbe und damit auch alle Andenken verloren hatte: der Schmerz war förmlich greifbar gewesen.

Freunde in der Not

Ohne sein Wissen, hatten seine Kollegen Geld gesammelt. Sein Chef hatte die Summe großzügig aufgestockt und bei der Auktion den alten Mustang ersteigert. Als sie Charles den Wagen übergaben, fiel dieser aber in ein noch tieferes Loch.

Stundenlang hatte er in dem Wagen gesessen. Die letzte Schachtel Zigaretten seines Vaters in der Hand gehalten. Im Handschuhfach die Baseball-Kappe gefunden. Auto, Zigaretten und Kappe machten aber nur noch klarer, dass sein Dad fehlte.

Ein Happy-End

Charles war Lavana unendlich dankbar, dass sie ihn mit dem liebevollen Foto und der so verständnisvollen Nachricht zum Gespräch eingeladen hatte. Er war nun überzeugt, dass weiteres Schweigen keine Lösung sein konnte. Noch heute Abend würde er einen Termin für eine Gesprächstherapie vereinbaren.

Zu dritt auf den Fahrersitz des alten Mustangs gequetscht, beschlossen Lavana und Charles noch etwas weiteres. Sie würden den Lagerraum auflösen und den Mustang zu sich nach Hause holen. Der Wagen sollte wieder regelmäßig gefahren werden. In ein paar Jahren würden sie beide den kleinen Taylor damit von der Schule abholen und – wer weiß – ihm vielleicht auch darin das Fahren beibringen.